Eine junge Frau im Abendlicht am Strand

„Pflegende Jugendliche können stolz auf sich sein“

Als Carolin ein Jahr alt ist, erkrankt ihre Mutter an Multipler Sklerose. Als sie acht Jahre wird, ist die Krankheit, die das Nervensystem des Körpers angreift und zu Lähmungen führt, bei ihrer Mutter so weit fortgeschritten, dass Carolin sie regelmäßig im Alltag unterstützen muss. Mittlerweile ist Carolin erwachsen und lebt in Norddeutschland. Für die Pausentaste erzählt sie, was ihr schwerfiel und welche Stärken sie als pflegende Jugendliche entwickelt hat.

„Seit ich denken kann, gehört die Krankheit meiner Mutter zu meinem und unserem Alltag. Multiple Sklerose bewirkt zum Beispiel, dass unterschiedliche Körperteile kribbeln und man Hände, Beine oder andere Körperteile schließlich gar nicht mehr bewegen kann. Die meisten Patienten sind irgendwann auf einen Rollstuhl angewiesen. Heute, rund 35 Jahre nach der Diagnose, wird meine Mutter zum Teil auch künstlich ernährt, weil sie nicht mehr richtig schlucken kann. Damals wusste ich natürlich noch nicht, wie sich alles entwickeln wird. Ich habe beim Kochen und Anziehen geholfen, weil es ihr zunehmend schwerfiel, Dinge zu greifen. Sie ließ Gegenstände dann zum Beispiel aus Versehen fallen

„Ein Kind, das sich um seine Mutter kümmert? – Wo gibt es denn so etwas?“

Wenn ich heute an die Zeit zurückdenke, merke ich, dass damals viele Erwachsene in meinem Umfeld – Nachbarn, Verwandte oder Fremde – die vertauschten Rollen, die durch die Krankheit entstanden sind, nicht wahrhaben wollten. ‚Ein Kind, dass sich um seine Mutter kümmert und nicht anders herum: Wo gibt es denn so etwas? Das darf ja gar nicht sein!‘ Diese Reaktionen haben mich getroffen. Außerdem wollte ich auch meine Mutter vor diesen Reaktionen schützen. Umso stolzer war ich, als ich einmal mit ihr im Rollstuhl durch die Innenstadt fahren konnte. Das war immer ein Traum von mir als Teenager – einmal mit meiner Mutter shoppen gehen. Als mein Vater uns mit einigem Aufwand in die Stadt brachte, hätte ich die Welt umarmen können. Am liebsten hätte ich laut durch die Stadt rufen wollen ‚Seht her – seht alle her, wie toll es ist, dass wir gemeinsam etwas unternehmen können‘. Daran erinnere ich mich heute noch sehr genau.

„Ich hatte große Angst, dass ich verantwortlich sein könnte, wenn meiner Mutter etwas zustößt“

Natürlich war die Zeit nicht immer so unbeschwert. Mein Vater und ich haben viele Stunden im Krankenhaus verbracht, wenn meine Mutter mal wieder einen Krankheitsschub durchlief oder etwas Unvorhersehbares passierte. Ich hatte dann große Angst, dass ich verantwortlich sein könnte, dass sie vielleicht sogar wegen mir sterben könnte. Heute engagiere ich mich im Verein Young Helping Hands, der Kindern und Jugendlichen mit Pflegeverantwortung eine Stimme gibt. Dort sage ich immer ganz offen: Ihr seid nicht schuld, wenn euren Eltern, Großeltern oder anderen Menschen, die ihr unterstützt, etwas zustößt. Wenn ihr in einer ähnlichen Situation seid, könnt ihr euch eine erwachsene Vertrauensperson suchen, die euch zuhört, ernst nimmt und unterstützt. Das kann zum Beispiel eine Lehrerin, ein Trainer aus dem Sportverein oder ein Sozialarbeiter sein. Mit jemandem zu reden, tut gut und manchmal ergeben sich neue Möglichkeiten. Damals dachte ich, dass ich das nicht möchte. Es könnte ja Verrat an meiner Mutter sein. Aber das ist es auf keinen Fall!

„Ich darf Zeit für mich in Anspruch nehmen“

Mit den Jahren habe ich gelernt: Auch ich darf Zeit für mich in Anspruch nehmen. Ich bin ein kreativer Mensch, und zu malen oder zu schreiben hat mir immer Freiraum gegeben. Ich habe auch gemerkt, dass mir manche Freunde damals nicht zuhören wollten. Sie haben gesagt, dass ich mich nicht so anstellen soll, oder dass schon alles gut wird. Nach und nach habe ich den Kontakt zu diesen Menschen abgebrochen und mich den Freunden zugewandt, mit denen ich wirklich eine gute Zeit hatte, und die mir zugehört haben.

Eine Sache möchte ich allen Kindern und Jugendlichen in einer ähnlichen Situation noch mitgeben: Ihr könnt stolz auf euch sein! Für andere Menschen zu sorgen und sich um sie zu kümmern, ist ehrlicherweise die Königsdisziplin des Menschseins. Ihr macht das jeden Tag mit viel Herzblut. Als Erwachsene merke ich, dass zwischenmenschliche Beziehungen meine Stärke sind. Ich bin eine gute Gesprächspartnerin und aufrichtige Freundin. Trotzdem heißt das nicht, sich selbst aufgeben zu müssen. Mit 19 Jahren habe ich mich deshalb auch dazu entschieden, mein eigenes Leben zu führen und von zuhause auszuziehen. Damals wie heute die Verantwortung eines pflegenden Angehörigen zu haben, hat mich stark gemacht.